19. Apr 2021
Lesedauer 6 Min.
Reif, aber nicht steif
Junge und erwachsene Entwicklungsteams
Erkenntnisse für die Softwareentwicklung lassen sich überall gewinnen – auch von einem Kalenderblatt.

Zunächst habe ich den Sinnspruch natürlich auf mich als Mensch gemünzt verstanden (Bild 1): „Reifer werden heißt, schärfer trennen und inniger verbinden.“, Hugo von Hoffmannsthal

Ein unschuldiger Kalenderspruchaus dem letzten Jahrhundert gilt auch für Entwicklungsteams von heute(Bild 1)
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Das hört sich sinnig an, das fühlt sich stimmig an. So empfinde ich das Älterwerden tatsächlich:
- Schärfer trennen bedeutet für mich, dass ich zunehmend klarer und zügiger Grenzen ziehe. Ich verstehe das als Ausprägung von stärkerer Identität. Ich weiß besser, was ich will und vor allem, was ich nicht (mehr) will.
- Gleichzeitig verbindet sich in mir allerdings auch immer mehr. „Die Dinge kommen zusammen.“ Was ich vor einigen Jahren gelesen habe und bisher separat in mir geschlummert hat, gehört plötzlich als Puzzleteil zum selben Bild. Ich sehe mehr Bezüge. Ich kann Neues heute einordnen, statt es einfach nur auf eine Halde zu legen.
- Es fehlt oft an klaren Wertvorstellungen. Beispiele für nicht oder nur ungenügend beantwortete Fragen: Welche Anforderungen haben für das Team hohen Wert, weil sie konfliktarm umzusetzen sind? Welche Anforderungen haben für den Kunden hohen Wert, weil sie seinen Gewinn mehren? Wie sieht wertvoller Code aus, der konfliktarm verändert werden kann? Welcher Arbeitsweise wird hoher Wert beigemessen, damit zügig und verlässlich dem Kunden möglichst viel Wert geliefert werden kann?
- Es fehlt oft an Mut, schon vorhandene Wertvorstellungen zu verteidigen. Da gibt es zum Beispiel eine Idee, wie wertvoller Code aussieht – doch diese Idee wird nicht konsequent verfolgt; das Team zieht keine Grenze, um diesen Wert zu schützen, zum Beispiel, indem es Nein zu einer geforderten Abkürzung sagt, um eine Deadline irgendwie zu schaffen.
- Es fehlt an klarem Zweck und Ziel, mit denen Priorisierungen und Ablehnungen begründet werden können.
- Es fehlt an Kommunikation auf Augenhöhe. Solange noch das Gefühl herrscht, dass die eine oben ist und ansagt und der andere unten gehorchen muss, ist es egal, wie oft Agilität auf den Postern an der Wand steht. Ein solches Gefälle bemerke ich zum Beispiel immer noch in Scrum-Teams mit einem PO (Product Owner) oben und Entwicklern unten. Das geschieht nicht bewusst und nicht gewollt – doch diese unreifen Verhältnisse existieren trotzdem. Ein PO ist keine Führungskraft und auch kein Manager.
- Es fehlt an Vertrauen. Solange noch Qualitäten über Deadlines hineinkontrolliert werden sollen, herrscht kein Vertrauen, sondern ein Nährboden für Konflikte. Solange noch Geld für Zeit und Anwesenheit und nicht für Resultate bezahlt wird, herrscht kein Vertrauen, sondern eine Stimmung, die Dienst nach Vorschrift fördert und Parkinsons Gesetz Vorschub leistet.
- Es fehlt an Fehlerkultur. Solange Äußerungen von Unsicherheit und das Eingeständnis von Fehlern ein ungutes Gefühl verursachen, fürchten Teammitglieder eine Trennung; die Verbindung ist noch nicht solide. Das führt zur Übervorsicht oder Vertuschung. Beides ist Produktivität und Lernen abträglich.
Fussnoten
- Wikipedia, Teambildung - Phasenmodell nach Tuckman und Klotz, https://de.wikipedia.org/wiki/Teambildung#Phasenmodell_nach_Tuckman_und_Klotz