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Lesedauer 6 Min.

Reif, aber nicht steif

Erkenntnisse für die Softwareentwicklung lassen sich überall gewinnen – auch von einem Kalenderblatt.
Zunächst habe ich den Sinnspruch natürlich auf mich als Mensch gemünzt verstanden (Bild 1): „Reifer werden heißt, schärfer trennen und inniger verbinden.“, Hugo von Hoffmannsthal
Ein unschuldiger Kalenderspruchaus dem letzten Jahrhundert gilt auch für Entwicklungsteams von heute(Bild 1) © Autor
Das hört sich sinnig an, das fühlt sich stimmig an. So empfinde ich das Älterwerden tatsächlich:
  • Schärfer trennen bedeutet für mich, dass ich zunehmend klarer und zügiger Grenzen ziehe. Ich verstehe das als Ausprägung von stärkerer Identität. Ich weiß besser, was ich will und vor allem, was ich nicht (mehr) will.
  • Gleichzeitig verbindet sich in mir allerdings auch immer mehr. „Die Dinge kommen zusammen.“ Was ich vor einigen Jahren gelesen habe und bisher separat in mir geschlummert hat, gehört plötzlich als Puzzleteil zum selben Bild. Ich sehe mehr Bezüge. Ich kann Neues heute einordnen, statt es einfach nur auf eine Halde zu legen.
In dieser Form zu reifen, macht mir das Leben einfacher. Entscheidungen treffen sich häufiger von allein. Daten kann ich schneller verwerfen oder als Informationen in mein mentales Netzwerk einfügen; meine Informationsverarbeitung ist flüssiger.Der Gewinn, den ich aus solcher Reifung ziehe, ist natürlich subjektiv. Aber warum auch nicht? Solange ich mich wohlfühle und weniger Konflikte empfinde, scheint mir das ausreichend.Ab und an jedoch, da bin ich nicht nur reif, sondern überreif: Ich trenne zu schnell zu scharf; ich verbinde zu viel zu eng. Das Ergebnis ist dann nicht Schnelligkeit, sondern Vorschnelligkeit. Und/oder das Ergebnis ist eine Versteifung. Zu sehr trennen, zu sehr innig verbinden ist eben auch nicht gut. Wie auch sonst im Leben geht es um das rechte Maß.Reife ist insofern kein Zustand, sondern ein Prozess. Man kann sie nicht einmal erlangen, sondern balanciert stets zwischen unreif und überreif. Regressionen und Versteifung bleiben eine Möglichkeit. Idealerweise bewege ich mich bis zu meinem Lebensende auf immer größere Reife ohne größere Schleifen zu. Doch das ist eben kein Selbstläufer. Reife mag mit Alter positiv korrelieren; einen einfachen Kausalzusammenhang gibt es jedoch nicht.Nun denke ich: wie für mich als Person, so auch für Organisationen – vom Team bis zum Unternehmen. Auch Organisationen durchlaufen eine Entwicklung. Sie werden gegründet (geboren) und altern; am Ende werden sie aufgelöst (sterben). Auf diesem Lebensweg können sie mehr oder weniger reifen. Dass dieser Weg in Phasen verläuft, ist spätestens seit Tuckman vielen bewusst geworden [1]. Die bekanntesten Phasen sind Forming, Storming, Norming, Performing.Wo eine Organisation gegründet wird, kann man nicht erwarten, dass sie sofort 100 Prozent Leistung erbringt, also reif ist und performt, wie man es sich wünscht. Das braucht seine Entwicklungszeit. Und eine Organisation kann regredieren, falls sich etwas genügend verändert – zum Beispiel durch den Wechsel der Mitglieder oder Änderung der Ziele.Mit von Hoffmannsthal würde ich nun sagen, dass diese Phasen eine Beschreibung eines Reifungsprozesses darstellen – der sogar im Performing nicht abgeschlossen ist.Es geht einerseits darum, die Menschen in der Organisation innig zu verbinden. Es soll Kohäsion entstehen, Zusammengehörigkeit. Das drückt sich im Formellen aus, zum Beispiel in Regeln, Prozessen, Normen; es spiegelt sich aber auch im Informellen wie Vertrauen, Gewohnheiten, dem kleinen Dienstweg wider. Andererseits geht es darum, dass Grenzen gezogen werden: persönliche wie solche für die Organisation. Eine Organisation kann nur performen, wenn sie Klarheit darüber hat, was ihr Zweck ist, wo ihre Ziele liegen, was ihre Aufträge sind, welchen Vorschriften sie genügen muss – und was, wann, wo eben nicht ihre Angelegenheit ist.Sie muss trennen lernen zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen. „Ist das essenziell oder kann das weg?“ Identität drückt sich für mich mehr im Nein als im Ja aus. Mit einem Nein wird getrennt; mit einem Nein distanziert man sich von den Bedürfnissen anderer, die eine Organisation oder eine Person für ihre Zwecke nutzen wollen.Eine Organisation kann mithin genauso Reife haben wie eine Person. Das beobachte ich immer wieder bei Teams und Unternehmen. Balancierende Reife ist dabei allerdings eine Seltenheit. Meinem Gefühl nach überwiegen auf Teamebene die Unreifen und bei Unternehmen die Steifen.Was bedeutet das für Softwareteams? Wie drückt sich Unreife aus? Wie kann Reifung befördert werden?Unreife zeigt sich für mich zuerst an der Grenze. Hier vermisse ich bei Softwareteams zum Beispiel Klarheit:
  • Es fehlt oft an klaren Wertvorstellungen. Beispiele für nicht oder nur ungenügend beantwortete Fragen: Welche Anforderungen haben für das Team hohen Wert, weil sie konfliktarm umzusetzen sind? Welche Anforderungen haben für den Kunden hohen Wert, weil sie seinen Gewinn mehren? Wie sieht wertvoller Code aus, der konfliktarm verändert werden kann? Welcher Arbeitsweise wird hoher Wert beigemessen, damit zügig und verlässlich dem Kunden möglichst viel Wert geliefert werden kann?
  • Es fehlt oft an Mut, schon vorhandene Wertvorstellungen zu verteidigen. Da gibt es zum Beispiel eine Idee, wie wertvoller Code aussieht – doch diese Idee wird nicht konsequent verfolgt; das Team zieht keine Grenze, um diesen Wert zu schützen, zum Beispiel, indem es Nein zu einer geforderten Abkürzung sagt, um eine Deadline irgendwie zu schaffen.
  • Es fehlt an klarem Zweck und Ziel, mit denen Priorisierungen und Ablehnungen begründet werden können.
Zu einer unscharfen Grenze kommt mangelnde innige Verbindung. Ich vermisse bei Softwareteams Kohäsion. Das drückt sich zum Beispiel so aus:
  • Es fehlt an Kommunikation auf Augenhöhe. Solange noch das Gefühl herrscht, dass die eine oben ist und ansagt und der andere unten gehorchen muss, ist es egal, wie oft Agilität auf den Postern an der Wand steht. Ein solches Gefälle bemerke ich zum Beispiel immer noch in Scrum-Teams mit einem PO (Product Owner) oben und Entwicklern unten. Das geschieht nicht bewusst und nicht gewollt – doch diese unreifen Verhältnisse existieren trotzdem. Ein PO ist keine Führungskraft und auch kein Manager.
  • Es fehlt an Vertrauen. Solange noch Qualitäten über Deadlines hineinkontrolliert werden sollen, herrscht kein Vertrauen, sondern ein Nährboden für Konflikte. Solange noch Geld für Zeit und Anwesenheit und nicht für Resultate bezahlt wird, herrscht kein Vertrauen, sondern eine Stimmung, die Dienst nach Vorschrift fördert und Parkinsons Gesetz Vorschub leistet.
  • Es fehlt an Fehlerkultur. Solange Äußerungen von Unsicherheit und das Eingeständnis von Fehlern ein ungutes Gefühl verursachen, fürchten Teammitglieder eine Trennung; die Verbindung ist noch nicht solide. Das führt zur Übervorsicht oder Vertuschung. Beides ist Produktivität und Lernen abträglich.
Lose Kopplung und hohe Kohäsion stellen einen Grundsatz der Softwarearchitektur dar. Nichts anderes scheint mir von Hoffmannsthal als Ziel des Reifungsprozesses erkannt zu haben. Reife ist, wenn Individuen wie auch Organisationen zwar gekoppelt sind, aber nicht abhängig und ineinander verhakt in steifen Beziehungen. Reife ist, wenn Individuen und Organisationen einen soliden inneren Zusammenhalt haben, der ihnen eine Identität gibt und erlaubt, eine Kontur auszubilden.Ein Zeichen von Reife ist ein selbstbewusstes, klares, zielgerichtetes Verhalten, das nur einhaltbare Versprechen eingeht und diese verlässlich erfüllt im Spannungsfeld fremder wie eigener Bedürfnisse.Ja, nicht weniger habe ich aus einem unschuldigen Kalenderspruch herausgelesen. Ich denke, mit einem offenen Auge lassen sich in der Welt wohl überall Hinweise auf eine gute Softwareentwicklung finden.

Fussnoten

  1. Wikipedia, Teambildung - Phasenmodell nach Tuckman und Klotz, https://de.wikipedia.org/wiki/Teambildung#Phasenmodell_nach_Tuckman_und_Klotz

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