15. Mär 2021
Lesedauer 10 Min.
Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser
Agilität und Führung – Was bedeutet es, Entwickler zu führen?
Führung ist out. Agile Teams organisieren sich schließlich selbst – oder etwa doch nicht?

Im Scrum Guide [1] oder zahlreichen anderen grundlegenden Veröffentlichungen über agiles Vorgehen finden wir keine Aussagen zum Thema der Personalführung. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, geht es darin doch um ein Managementframework zur Bewältigung komplexer Entwicklungsprojekte. Andere Themen wie zum Beispiel das Requirements Engineering werden deshalb im Scrum Guide auch nicht betrachtet beziehungsweise in eigenen, darauf spezialisierten Abhandlungen betrachtet. In diesem Artikel beschreibe ich meine Erfahrungen als Führungskraft in agilen Organisationen.
Ist Führung noch notwendig?
Werden Führungskräfte in modernen Organisationen überhaupt noch benötigt? Führung durch explizite Führungskräfte ist doch ein eher traditionelles Konzept und nur noch den arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen geschuldet. Das Internetunternehmen Google LLC wollte mit dem Projekt Oxygen daher 2002 beweisen, dass Manager in Technologieunternehmen überflüssig sind. Der Begriff Manager ist im Amerikanischen weiter gefasst und bezeichnet sowohl Führungskräfte als auch Organisatoren und Personen, die mit der Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungen betraut sind [2].Das Projekt Oxygen ist nach mehreren Jahren zur Überraschung von Google gescheitert. Ab 2008 untersuchte Google daher, welche Eigenschaften den besten Managern gemeinsam sind. Daraus entstand eine Liste mit zehn Punkten [3]: 1. Guter Coach 2. Spornt das Team an und vermeidet Mikromanagement 3. Schafft ein integratives Umfeld und ist sowohl am Erfolg wie am Wohlbefinden der Mitarbeiter interessiert 4. Ist produktiv und ergebnisorientiert 5. Guter Kommunikator, hört zu und teilt Informationen 6. Unterstützt die Karrieren der Mitarbeiter und diskutiert differenziert deren Leistungen 7. Hat eine klare Vision beziehungsweise Strategie für das Team 8. Hat die Qualifikationen, um das Team zu unterstützen und zu beraten 9.Arbeitet innerhalb der Organisation mit anderen zusammen10. Trifft EntscheidungenBei Google hat man die Führungskräfteausbildung nach dieser Liste modifiziert und erreicht damit nach eigenen Aussagen gute Ergebnisse. Google empfiehlt daher, in jedem Unternehmen selbst zu analysieren, welche Eigenschaften gute Führungskräfte auszeichnen. Führung ist also notwendig!Was ist Führung?
Frei nach Niklas Luhmann transformiert eine Führungskraft Irritation in Information [4]. Es geht bei Führung also darum, für sich und andere Klarheit zu schaffen. Wie kann es zu Irritationen kommen? Betrachten wir die Gruppe, um deren Führung es geht, so gibt es zwei mögliche Quellen für Irritationen: innerhalb und außerhalb der Gruppe. Innerhalb der Gruppe kann es zum Beispiel soziale Konflikte zwischen den Mitgliedern geben oder unterschiedliche Sichten über die Prioritäten, an denen sich die Mitglieder der Gruppe orientieren. Widersprüchliche Ziele sind ein weit verbreitetes Beispiel für Irritationen von außen. So möchte ein Bereichsleiter vielleicht in eine neue Entwicklung investieren, die gesamte Firma muss jedoch aus wirtschaftlichen Gründen sparen, da der Umsatz in Zeiten von Covid-19 eingebrochen ist.Führung ist ein Phänomen, das in Gruppen erfolgt und von sozialer Beeinflussung handelt. Führung ist daher ein Interaktionsphänomen [5]. Aus organisationspsychologischer Sicht wird sie definiert als „unmittelbare, absichtliche und zielbezogene Einflussnahme durch Inhaber von Vorgesetztenpositionen auf Unterstellte mithilfe der Kommunikationsmittel“ [6]. „Führung ist ein richtungweisendes und steuerndes Einwirken auf den anderen, um eine bestimmte Zielvorstellung zu erreichen“ [7]. Ein besonderes Kennzeichen ist die Ungleichheit zwischen den Beteiligten, das heißt, eine hierarchische Beziehung. Eine formale Führungskraft kann also nicht „Gleicher unter Gleichen“ sein.Bei der Analyse von Führung in Organisationen ist es von Bedeutung, nicht nur auf die Führungspersonen zu schauen, sondern auch die geführten Mitarbeiter zu betrachten. Das eine geht nicht ohne das andere. Ein Führungssystem besteht aus allen Mitarbeitern einer Organisationseinheit, und eine der zentralen Aufgaben der Führungskräfte besteht nach der obigen Liste (Punkte 1, 6 und 8) darin, die Mitarbeiter weiterzuentwickeln.Mitarbeiter weiterentwickeln
Der Umgang miteinander hängt vom jeweiligen aufgabenrelevanten Reifegrad eines Mitarbeiters ab. Ein einfaches Modell, das aus Führungskonzepten und aufgabenbezogener Reife eines Mitarbeiters definierte Führungstechniken ableitet, ist in Bild 1 zu sehen [8].
Führungskonzepte und Mitarbeiterreifenach Hersey, Blanchard und Johnson [8](Bild 1)
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Hersey, Blanchard und Johnson haben den Bezug zwischen dem aufgabenrelevanten Reifegrad eines Mitarbeiters in einer Organisationseinheit und der Mischung aus mitarbeiterbezogenem und aufgabenbezogenem Führungsstil aus Bild 1 hergestellt [8]. Neben der Expertise und dem sich daraus ergebenden Vertrauen in eine Führungskraft spielt die aufgabenbezogene Qualifikation eines Mitarbeiters eine ebenso wichtige Rolle in der Dynamik eines Führungssystems wie dessen Motivation. Aus dem Modell lassen sich nicht nur einfache Führungskonzepte ableiten. Es zeigt auch auf, wer überhaupt wem gegenüber in die Führung gehen kann.Hersey, Blanchard und Johnson setzen auf den Reifegrad, die aktuell vorhandenen Fähigkeiten eines Mitarbeiters zur Umsetzung einer Aufgabe in Bezug zu seiner Motivation. Bei Mitarbeitern mit geringem aufgabenrelevantem Reifegrad (rot, links unten in Bild 1) fehlt sowohl die Qualifikation als auch die Motivation. Hier kann nur streng aufgabenbezogen unterwiesen werden. Es bedarf genauer Ansagen, was, wann, wo und wie gemacht werden soll. Glücklicherweise findet sich dieser Reifegrad in der Softwareentwicklung eher selten, da dort eine eher hohe intrinsische Motivation vorliegt.Bei einer mäßigen Reife findet man die typische Einarbeitungssituation vor. Der Mitarbeiter ist motiviert, aber nicht mit der Umsetzung der Aufgabe vertraut (Gelb, links oben in Bild 1). Hier wird sowohl stark aufgaben- als auch stark mitarbeiterbezogen geführt. Mit „verkaufen“ ist hier ein Erklären, Fördern und Trainieren gemeint [9].Zeigt ein Mitarbeiter bezogen auf eine Aufgabe eine erhebliche Reife, so hat er zwar die notwendigen Fähigkeiten, aber nur eine geringe Motivation (grün, rechts oben in Bild 1). Dies kann bei langweiligen oder unliebsamen Tätigkeiten wie zum Beispiel einer nachträglichen Dokumentation von Vorgängen der Fall sein. Der Fokus der Führung ist hierbei stark mitarbeiterbezogen, wobei der Mitarbeiter in Entscheidungen mit eingebunden und unterstützt wird.Bei einer hohen Reife sind sowohl die Fähigkeiten als auch die Motivation zur Umsetzung einer Aufgabe auf hohem Niveau. Das ist die ideale Situation, um Aufgaben zu delegieren (blau, rechts unten in Bild 1). Diese Mitarbeiter eignen sich auch sehr dazu, andere Mitarbeiter zum Beispiel auf der gelben Stufe einzuarbeiten oder weiterzuentwickeln und benötigen selbst oft kaum noch klassische Führungsimpulse.Wichtig ist hierbei, dass die Bewertung der Reife eines Mitarbeiters stets aufgabenbezogen ist. Ein Mitarbeiter A kann für die Aufgabe X eine hohe, gegenüber Aufgabe Y dagegen nur eine mäßige Reife zeigen. Und bei Mitarbeiterin B stellt es sich umgekehrt dar. Es hängt vom konkreten Zusammenspiel der Aufgaben mit der Motivation, Qualifikation und Erfahrung eines Mitarbeiters ab. Damit ist das Modell von Hersey, Blanchard und Johnson hoch dynamisch.Mit dem steigenden Grad der Qualifikation und Motivation in einer Gruppe erhöht sich der mögliche Grad der Selbstorganisation. Ein System ändert seine Dynamik mit dem Grad seiner Selbstorganisation und erreicht damit auch einen angemesseneren Umgang mit neuen Situationen in dynamischen Umfeldern.Die Weiterentwicklung eines Mitarbeiters erfolgt in Bezug auf die jeweiligen zu leistenden Aufgaben dahingehend, möglichst viele dieser Aufgaben selbstständig bewältigen zu können (Delegation, rechts unten in Bild 1). Auf dem Weg dorthin werden die anderen Stufen durchlaufen.
Teams weiterentwickeln
Betrachten wir eine Gruppe, so gilt es auch hier auf dem Weg zu selbstorganisierten Teams, ihre eigene Verantwortung schrittweise zu erweitern. Schematisch ist dieser Weg in der Autoritätsmatrix nach J. Richard Hackman in Bild 2 dargestellt [10].
Autoritätsmatrixnach Hackman [10](Bild 2)
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Hackman legt drei Stufen der Managementverantwortung über das Erledigen einer Aufgabe:1. Die Arbeitsprozesse gestalten und den Fortschritt überwachen2. Das Team und den Organisationskontext festlegen3. Die Ziele vorgebenJe nachdem, wie viele dieser Aufgaben vom Team übernommen werden, definiert er vier Arten von Teams:1. Managergeführte Teams2. Sich selbst steuernde Teams3. Sich selbst gestaltende, selbstorganisierte Teams4. Autonome TeamsSich selbst steuernde Teams lassen sich über die Umsetzung von Kanban schaffen. Über Kanban-Boards werden die Arbeitsabläufe visualisiert. Das Team kann selbstständig die Arbeit gestalten, wobei der Fortschritt durch das Umhängen der Karten auf den Boards jederzeit für alle sichtbar ist. Über Retrospektiven vermag das Team die Arbeitsprozesse selbst regelmäßig zu verbessern und an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen.Darauf aufbauend kann dann zum Beispiel über die Umsetzung von Scrum der Weg zu einem selbstorganisierten Team beschritten werden. Dabei erhält das Team mehr und mehr Gestaltungsspielraum nicht nur hinsichtlich der Prozesse, sondern auch bezüglich der Strukturen und damit des Teams selbst. Am Ende dieses Wegs stehen dann autonome Teams, die auch in der Lage sind, ihre Ziele zu definieren.
Rahmen setzen
Was kann eine Führungskraft machen, um mit ihrem Team diesen Weg zu beschreiten? Führung bedeutet dabei, die Rahmenbedingungen für Selbststeuerung und Selbstorganisation zu schaffen und ein Ziel beziehungsweise eine Vision zu setzen. Der Rahmen wirkt dann wie eine Leitplanke auf dem Weg, die Vision umzusetzen, und die Vision als gemeinsames Ziel hilft dabei dem Team, sich gemeinsam auszurichten. Siegfried Kaltenecker sieht die in Bild 3 dargestellten Aspekte für selbstorganisierte Teams [11].
Bedingungenfür selbstorganisierte Teams nach Kaltenecker [11](Bild 3)
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Über die Bereitstellung passender Information und Infrastruktur sowie über die Weiterbildung der einzelnen Personen und der Gruppe als Team versetzt die Führungskraft das Team in die Lage, die Ziele zu erreichen. Daraus ergibt sich als zentrale Aufgabe einer Führungskraft, die Ziele derart zu gestalten, dass sie sich gut vermitteln lassen und motivierend beziehungsweise attraktiv auf die Gruppe wirken.
Konflikte auflösen
Eine weitere Kernaufgabe der Führung liegt darin, Schwierigkeiten und Hindernisse aus dem Umfeld des Teams zu minimieren. Eine ganz wesentliche Art solcher Hindernisse sind Konflikte.Konflikte können sich im Team, zwischen Teams oder Abteilungen oder auch zwischen Mitarbeitern und Kunden ergeben. Es gilt, diese früh zu erkennen und konstruktiv aufzulösen. Dabei ist es wichtig, dass die Mitarbeiter großes Vertrauen in ihre Führungskraft und deren konstruktiven Umgang damit setzen. Anderenfalls werden sie sie kaum rechtzeitig informieren. Wenn eine Führungskraft als Erstes stets einen Schuldigen sucht, statt ein Problem zu lösen, bleiben Konflikte lange verdeckt und köcheln im Verborgenen.Grundlage: Vertrauen und Selbststeuerung
Gegenseitiges Vertrauen bildet daher die Basis für die Führung agiler Teams. Damit ein solches Modell funktioniert, ist es absolut notwendig, dass sich ein Team selbst steuern kann. Dazu benötigt es eine Übersicht über den Fortschritt seiner Arbeit. Kanban-Boards und andere Dashboards liefern solche Sichten, die bei den Mitgliedern des Teams zu Einsichten der einzelnen Personen werden. Sie können damit selbst und schnell reagieren. Eine solche Selbststeuerung benötigt auch das Vertrauen der Führungskraft in die Teammitglieder, damit angemessen umzugehen.Ein solches Team steuert und kontrolliert seine Arbeit selbst. In Ausnahmesituationen wie zum Beispiel Konflikten, die die Mitarbeiter nicht selbst handhaben können, ziehen sie die Führungskraft schnell hinzu. Das operative Tagesgeschäft liegt damit in der Verantwortung des Teams.Diese Fähigkeiten bei den Mitarbeitern zu entwickeln und aus ihnen über motivierende Ziele ein Team zu formen, ist die Kernaufgabe einer Führungskraft in agiler Entwicklungsarbeit. Analog zur Autoritätsmatrix aus Bild 2 kann diese Entwicklung über selbstorganisierte Teams bis hin zu autonomen Teams ausgebaut werden. Hierzu eine persönliche Anmerkung: Diese Aufgabe ist für mich als Führungskraft sehr erfüllend und meine zentrale Motivation, Führungskraft zu sein.Dynamische Führung
Wenn wir auf diesem Weg erfolgreich voranschreiten, erreichen wir einen Punkt, an dem die Führung je nach Aufgabe und Qualifikation dynamisch wechselt. Die je nach Aufgabe und Verfügbarkeit am besten geeignete Person übernimmt Führungsaufgaben. Häufig ist dies nicht die explizite Führungskraft. Ein Experte aus dem Team übernimmt dann die Führung implizit.Merkmal dieser Form der Führung ist, dass die anderen Gruppenmitglieder diese Führung temporär bewusst oder unbewusst delegieren und die jeweilige Führung dann auch akzeptieren. Wir erkennen daran ein Grundelement jeder Form von Führung. Es braucht dazu eine Person, die die Führung übernimmt. Dies kann jedoch nicht gegen die zu führenden Personen erfolgen. Die Mitglieder des Teams übertragen die Führungsaufgabe an die Führungskraft und lassen sich dann von ihr führen. Dies erfolgt meist implizit. In agilen Teams erfolgt dies jedoch immer öfter auch explizit: Ein Scrum Team wählt zum Beispiel seinen Scrum Master.Eine explizite, aber auch implizite Führung gegen das Team wird nicht funktionieren. Es würden viele Konflikte entstehen, die Fluktuation steigen und die Ergebnisse nur von geringer Qualität sein. Erfolgreiche Führung ist stets das konstruktive Zusammenspiel von führenden und geführten Personen.Fazit
Führung ist auch in modernen Organisationen notwendig. Ebenso wie die Organisationen hat sich dabei auch die Führung weiterentwickelt. Eine Führungskraft für agil arbeitende Teams setzt Ziele, schafft passende Rahmen und entwickelt die Mitglieder der Teams und die Teams selbst kontinuierlich weiter. Die Selbststeuerung der Teams und das gegenseitige Vertrauen bilden dafür die Basis.Fussnoten
- Ken Schwaber, Jeff Sutherland, The Scrum Guide, https://www.scrumguides.org/docs/scrumguide/v2020/2020-Scrum-Guide-US.pdf
- Henry Mintzberg, Managen, Gabal, 2010,
- Melissa Harrell, Lauren Barbato, Great managers still matter – the evolution of Google’s Project Oxygen, https://rework.withgoogle.com/blog/the-evolution-of-project-oxygen/, 27. Februar 2018,
- Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 3. Auflage, 2011,
- Philip Zimbardo, Richard J. Gerrig, Psychologie, Springer, 1999,
- Lutz von Rosenstiel, Kommunikation und Führung in Arbeitsgruppen, 4. Auflage, Huber, 2007,
- Michael Lorenz, Uta Rohrschneider, Praktische Psychologie für den Umgang mit Mitarbeitern – Die vier Mitarbeitertypen führen, Campus, 2008,
- Paul H. Hersey, Kenneth H. Blanchard, Dewey E. Johnson, Management of Organizational Behavior – Leading Human Resources, 10. Auflage, Pearson, 2012,
- Peter R. Wellhöfer, Gruppendynamik und soziales Lernen, UTB, 2018,
- J. Richard Hackman, Leading Teams – Setting the Stage for Great Performances, Harvard Business Review Press, 2002,
- Siegfried Kaltenecker, Selbstorganisierte Teams führen – Arbeitsbuch für Lean & Agile Professionals, dpunkt.verlag, 2. Auflage, 2018,
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